ErkTh GegenwartThesenübersicht zu Baumann: Erkenntnistheorie (2006 [32015]) 

Paul Natterer
Reihe: Aufsätze zur Philosophie

2008
14 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: DIN A4

 

Datenübermittlung:

Thesenübersicht zu Baumann: Erkenntnistheorie (2006)

 

Artikelbeschreibung

Peter Baumanns Erkenntnistheorie [2. Auflage Stuttgart / Weimar 2006, VII + 312 S.] halte ich für die beste kompakte Behandlung des Themas. Sie wird auch vielen einschlägigen Lehrveranstaltungen zu Grunde gelegt. M. Schlick [PhilWeb]Inzwischen liegt sie in 3. Auflage (2015) vor. Ich erinnere mich an Baumanns (University of Aberdeen) Koreferat zu Stewart Cohens Vortrag 'Knowledge, Speaker, and Subject' auf einer der wichtigsten internationalen Fachkonferenzen der Gegenwart zur Erkenntnistheorie: Contextualist Approaches to Epistemology (Universität Mainz, 04.-06.09.2003). Sie brachte zum ersten Mal die Vertreter des heute sehr starken Ansatzes des Kontextualismus zusammen, deren Leitfigur u.a. Cohen ist. In meiner Wahrnehmung hat Baumann dabei durch engagierte Kompetenz und intellektuelles Ethos den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, selbst gegenüber Fred Dretskes souveränem Auftritt (vgl. die Kongressakten: Brendel / Jäger (eds.)  Contextualisms in Epistemology, Dordrecht 2005). Folgende Aussagen skizzieren Themen und Argumente der gegenwärtigen Forschung v.a. in der analytischen Erkennntnistheorie. [Foto links; GNU FDL: Moritz Schlick, 1882-1936, Begründer des Wiener Kreises und Wegbereiter der Analytischen Philosophie und Erkenntnistheorie mit seinem Hauptwerk Allgemeine Erkenntnislehre von 1918]

(1) Möglichkeit des Wissens trotz Regress-, Zirkularitäts- und Skeptizismuseinwand gegen das Unternehmen Erkenntnistheorie.

(2) Wissen ist nicht einfach als Kenntnis der Wahrheit zu bestimmen, sondern als diskriminierte Kenntnis der Wahrheit (Diskriminitätsprinzip).

(3) Unterscheidungen des Wissens sind: Propositionales Wissen (Wissen, dass) – Praktisches Wissen (Gewusst, wie) – Erlebniswissen (Wissen, wie es ist = Phänomenales Qualia-Wissen, z.B.: Azurblau, Sandelholzduft, Kiwigeschmack).

(4) Bedingungen des Wissens sind [1] Überzeugung (Für-wahr-halten) - [2] Tatsache (Wahrheit) - [3] Rechtfertigung (Nicht-Zufälligkeit) - [4] Rechtfertiger (Wahre Rechtfertigung: nur bei internalistischen Theorien).

(5) Konzeptionen des Wissens teilen sich inexternalistische und internalistische Ansätze. Letztere binden Wissen an das reflexive Bewusstsein des Wissens (kognitive Zugänglichkeit) oder an die intentionale Rationalität des Wissens (kognitive Rechtfertigung).

(6) Wissensbedingung [1] Überzeugungen meint in psychologischer Hinsicht mentale Urteile (Überzeugungen i.e.S.); in sprachlicher Hinsicht Sätze; und in logischer Hinsicht Propositionen. Bausteine der Urteile oder Überzeugungen sind Begriffe.

Bildung und Taxonomie von Allgemeinbegriffen und ihrer logischen Relationen erfordern einen mehrschichtigen Forschungsansatz: (i) logisch-definitorisch, (ii) empirisch-prototypisch, (iii) kontextuell-pragmatisch.

(7) Wissensbedingung [2] Wahrheit meint die hier v.a. interessierende logische Aussagenwahrheit (wahr, dass) und nur entfernt die ontologische Wahrheit (Echtheit, Nichtscheinhaftigkeit). Wahrheitsträger der logischen Aussagenwahrheit sind linguistische Aussagesätzementale Überzeugungen / Urteile (Überzeugungen i.e.S.) – logische Propositionen (= logisch-semantischer Inhalt von Sätzen und Urteilen).

Wahrheit ist abhängig von Propositionen.

Wahrheit ist abhängig vom objektiven Wahrsein und nicht vom Für-wahr-halten: „Wahrheit hängt nicht von uns ab“ (2006, 146).

Wahrheit ist zeitlos: „Ein und dieselbe Proposition [kann] ihren Wahrheits-Wert [nicht] in der Zeit verändern“ (2006, 147).

Eine Subjektabhängigkeit der Wahrheit als Abhängigkeit von sprechenden und denkenden Wesen gilt nur für die Urteile und Sätze als den Wahrheitsträgern, nicht für Propositionen als Wahrmachern qua objektiven Tatsachen.

Die Definition der Wahrheit (Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand) ist als Kriterium der Wahrheit unzureichend (vgl. Kant KrV B 82). Dennoch besteht zwischen Definition und Kriterium eine Abhängigkeit.

(8) Wissensbedingung [3]: Rechtfertigung und Rationalität. Sie hat die Einsicht zur Voraussetzung: Rechtfertigung ist nicht Wahrheit („Das eine impliziert nicht das andere“ (2006, 182)).

Es gibt nichtentwertbare konklusive Rechtfertigungs-Gründe, welche auf Logik und Semantik beruhen, wo also eine innere logische Beziehung zwischen Grund und Folge [Tatsache] besteht. Und es gibt entwertbare nichtkonklusive Gründe, welche auf Erfahrung, Induktion und Wahrscheinlichkeit beruhen und wo nur eine faktische kausale Beziehung zwischen Grund / Ursache und Tatsache besteht.

Damit die Rechtfertigung nicht in den Regress oder Zirkel gerät, braucht es Regressstopper, d.h. eine Basis, ein letztes Fundament der Rechtfertigung. Dieses wird durch Fundamentalismus, Kohärentismus und Kontextualismus verschieden bestimmt, wobei die Ansätze am ehesten zusammengenommen überzeugen, im Sinne eines 'pragmatischen Fundhärentismus'.

(9) Typen des Wissens: Propositionen und die dabei verwendeten Begriffsbausteine können aus der Erfahrung stammen, also empirisch, aposteriorisch sein. Oder vor der Erfahrung da sein, apriorisch sein. Nicht identisch mit dieser Unterscheidung ist die Unterscheidung notwendiges vs. kontingentes Wissen.

Reiner Empirismus, also die Anerkennung nur empirischen Wissens, ist problematisch und nicht haltbar. Dies wegen der Theoriehaltigkeit der Erfahrung, des Induktionsproblems, und der strengen Allgemeinheit von Theorien.

Die Analytisch-Synthetisch-Unterscheidung ist keine grundsätzliche Unterscheidung, sondern eine pragmatische, kontextabhängige. Sie ist sinnvoll und korrekt relativ zu einer Sprachwelt resp. Wissenstand. Der synthetische Apriorismus ist eine sinnvolle und notwendige Form des Apriorischen.

(10) Quellen des Wissens sind: WahrnehmungSchlussErinnerungIntrospektionGlaube.

Die Herkunft des vielleicht größten Teils unseres Wissens aus Glaube / Hörensagen macht deutlich, dass Wissen von sozialer Natur ist: „Ganz offensichtlich beruht zumindest ein sehr großer Teil unseres Wissens auf den Berichten anderer Personen“ (2006, 277)

(11) Skeptizismus. Das klassische Argument ist das Traumargument: Wir können nicht logisch ausschließen, dass Welt und Leben nur ein einziger Traum und damit Schein sind. Varianten des Arguments sind das Arglistige-Dämon-Argument Descartes': ein Dämon spiegelt uns die Realität vor. Und das Gehirn-im-Tank-Argument Putnams: Wir könnten Gehirne in einem mit Nährstoffen gefüllten Tank sein, denen die Außenwelt durch eine perfekte interaktive Computersimulation virtuell suggeriert wird.

Wichtig und einsichtig ist hier die Semantische Antwort (Austin): Auch wenn das Leben ein Traum ist, gibt es zwei unterschiedliche epistemische Niveaus: Traum-total und Traum-normal.

Dann das sog. Paradigm-case-Argument: Wir verwenden und verstehen das Wort Wissen. Also besitzen wir einen Begriff von Wissen. Also muss es sinnvolle Verwendungen des Begriffswortes 'Wissen' geben, das an paradigmatischen Vorkommens-Fällen gewonnen wurde.

Und das Argument aus der Begründungspflicht des Zweifels: Der radikale und universelle Zweifel ist haltlos, „weil man zum Zweifeln Gründe braucht“ (Wittgenstein), und andererseits jeder sinnvolle Zweifel voraussetzt, dass man an manchem nicht zweifelt (Wittgenstein), wie z.B. an der Existenz des eigenen zweifelnden Ich und der Logik des Denkens im Zweifel.

Eine ausführlichere Übersicht zur aktuellen Lage der Erkenntnistheorie bietet dieses kommentierte Skript zu Baumanns Behandlung des Themas.