Aufsätze zur Klassischen Philologie und Orientalistik
Zur Wissenschaftsphilosophie der Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Historiographie des Alten und Neuen Testamentes
Paul Natterer
Aufsätze zur Klassischen Philologie und Orientalistik
2019 [2014]
28 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: 15,5 x 22 cm
Datenübermittlung:
Zur Wissenschaftsphilosophie der Geschichte
Artikelbeschreibung
Der Inhaber des Tübinger Lehrstuhls für klassische Philologe Wolfgang Schadewaldt hielt 1966 vor den beiden theologischen Fakultäten in Tübingen sowie vor der theologischen Fakultät in Hamburg und danach noch öfter einen Aufsehen erregenden Vortrag mit dem Titel ‚Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition‘ [veröffentlicht in: Theologische Beiträge (12) 1982, Heft 5, 201-223; wieder abgedruckt in: ibwJournal 3/1983, Sonderbeilage]. Schadewaldt (1900-1974), Schüler der Altmeister der klassischen Philologie Ulrich Wilamowitz-Moellendorf, Hermann Diels, Eduard Norden und Werner Jaeger, war der mit bedeutendste deutsche klassische Philologe des 20. Jh. und der führende Homerforscher der Moderne. Dazu Experte der frühen griechischen Geschichtsschreibung bei Herodot und Thykidides. Um seine Schüler Hans Joachim Krämer und Konrad Gaiser kristallisierte sich die international sehr einflussreiche Tübinger Platonschule. Schadewaldt hatte sich während Jahrzehnten historisch-philologisch auch mit dem Neuen Testament auseinander gesetzt und stand mit der crême de la crême der protestantischen Exegese in persönlicher und akademischer Verbindung. Der erwähnte Vortrag bilanzierte:
„Sehen Sie sich andere Offenbarungsbücher an, von denen es im weiten Bereich der Religionsgeschichte nicht wenige gibt. Die Evangelien sind vollständig einzigartig, soweit ich alles dies kenne — wodurch? Dadurch, daß sie diese unerhörte konkrete Weltfülle uns vor Augen führen [...] Es sind, soweit ich das beurteilen darf, Erlebnisse, Erfahrungen derer, die [...] das alles miterlebt haben [...] Ich kenne im Bereich der Geschichtsschreibung, der Biographien und der Dichtung kaum etwas, wo in einem derart kleinen Bereich eine so gewaltige Weltfülle vor mich hintritt [...] Man spricht von solcher Weltfülle bei Homer als Dichter, mit Recht, und zwar beruht jene Weltfülle auf der Wirklichkeit. Keine Rede davon, daß er sich das ausgedacht hat! Man kann eine solche Weltfülle etwa auch bei Platon beobachten, obgleich er Philosoph ist, aber sie ist auch da in seinen Dialogen; bei Shakespeare kennt man diese Weltfülle und wohl auch bei Dante, bei Goethe. Aber sonst ist das ganz selten, und das, was ich eben nannte, sind meistens große Werke, hier sind es wenige Seiten." (1983, 14-17)
In Bezug auf das Alte Testament hat Schadewaldts Plädoyer eine Parallele in dem opus magnum von Kenneth Kitchen: On the Reliability of the Old Testament, Grand Rapids / Cambridge 2006. Der Liverpooler Ägyptologe und Archäologe Kenneth Kitchen ist für das pharaonische Ägypten der Perioden von 1180–650 v.C. weltweit die unbestrittene Nr. 1 ist und gilt als „the very architect of Egyptian chronology“ (The Times 13.10.2002). Er ist darüber hinaus ein führender Experte zur Archäologie und Geschichte Palästinas und des Nahen Ostens in der Bronzezeit (3000–1200 v. C.) und Eisenzeit I–III (1200–450 v. C.). Der Brennpunkt von Kitchens fast erdrückender Kompetenz liegt mithin auf den geographischen Räumen und geschichtlichen Epochen, welche Gegenstand der Bücher der Tora, Propheten und Schriften der hebräischen Bibel (Tanakh, Altes Testament [AT]) sind. Kitchens Bilanz lautet: Die historisch-kritische Exegese der letzten 150–200 Jahre (J. Wellhausen - T. L. Thompson - N. P. Lemche - I. Finkelstein - E. Otto) zum Alten Testament ist – methodologisch und inhaltlich – wissenschaftlich nahezu wertlos und in Vorurteilen des 19. Jh. verharrende Spekulation, welche mit dem inzwischen sehr umfassend vorliegenden Daten- und Faktenmaterial nicht zur Deckung gebracht werden kann: Wellhausens „bold theory became fixed dogma”. Diese “fantasy world” steht heute, so Kitchen, gegen “factual knowledge of firmly secular disciplines [...] The fact-based Near Eastern profiles … can now afford us a far more stable paradigm with which to work” (2006, 497-498). Konträr zur Phantasiewelt der Theologen sagen uns die Wissenschaften: “The Old Testament books and their contents did not exclusively originate as late as 400–200 B.C.; and they are by no means pure fiction – in fact, there is very little proven fiction in them overall […] We have a consistent level of good, fact-based correlations right through from circa 2000 B. C. (with earlier roots) down to 400 B.C.” (2006, 499–500)
Das Thema wird in dem vorliegenden Papier anhand der jüngsten Entwicklungen in der Literarkritik und Einleitungswissenschaft weitergeführt. Es basiert auf Verf.: Die Entstehung der Tora, E-Publikation 2010, Abschnitt (8) Orientalistische Forderung eines Paradigmenwechsels (S. 22–34); sowie auf dem E-Buch Wissenschaftsphilosophische Evaluation und Bilanz zum Neuen Testament. Die Gliederung des Papiers ist wie folgt:
(1) Postmoderne Hermeneutik
(2) Methodologische Fehlschlüsse I
(3) Methodologische Fehlschlüsse II
(4) Methodologische Fehlschlüsse III
(5) Kritik der hermeneutischen Vernunft: Reproduktive und produktive Interpretation
(6) Orientalistische Forderung eines methodologischen Paradigmenwechsels
(7) Zur Wissenschaftsphilosophie der neutestamentlichen Geschichtsschreibung I: Historiographische Grundkategorie Augenzeugenschaft (Autopsie)
(8) Zur Wissenschaftstheorie der neutestamentlichen Geschichtsschreibung II: Evangelien als antike Biographien