Diskussion AtzmonThesen und Diskussion zu Gilad Atzmon: Der Wandernde — Wer?, Eine Studie jüdischer Identitätspolitik, Frankfurt a. M. 2012

[Engl.: The Wandering Who?, Winchester 2011]

 

Paul Natterer
Reihe: Aufsätze zur Religionsphilosophie

2014
25 Seiten
Sprache: Deutsch
Ausgabe: PDF-Datei
Format: 15,5 x 22 cm

Datenübermittlung:

Diskussion zu Atzmon: Der Wandernde — Wer?

 

Artikelbeschreibung

Der 1963 in Tel Aviv geborene und heute in London lebende Autor Gilad Atzmon [Foto links, Creative Commons 2.0) ist einer der erfolgreichsten Jazzmusiker der Gegenwart (z.B. BBC Jazz Album of the Year in 2003). Der Musiker Atzmon ist Gilad Atzmon Portraitaber auch ein ebenso bekannter Philosoph, Zeitanalytiker und Bürgerrechtler. Sein hier diskutiertes Buch wird von zahlreichen führenden Völkerrechtlern, Historikern, Politikwissenschaftlern und Soziologen empfohlen, so von Prof. Richard Falk (Princeton) als ein würdiger „Gegenstand gründlichen Nachdenkens“ und von Prof. Francis A. Boyle (ehem. Vorstandsmitglied Amnesty International) als „exzellente Kritik ... aus humanistischer Perspektive“. Nach Atzmon ist die jüdische Identität heute mit verbreiteter Resignation und Verzweiflung speziell bei jungen (und älteren) Israelis konfrontiert und damit mit Unerlöstheit (2012, 128—129). Es bestehe ein moralischer Bankrott, da narzisstische Angst ethisches Denken und Handeln verhindere (165). Die auch und besonders den Zionismus kennzeichnende Dialektik von kritikloser Selbstliebe mit Überlegenheitsdünkel und Anderenhass treibe trotz historisch unerreichter Machtfülle in ausweglose Aporien (130), in unerlöste Lüge und Gewalt (166).

Religionswissenschaftler und Theologen sehen sofort, dass das hier in Rede stehende Identitätsproblem ein Kernthema des prophetischen Theismus berührt. Jenes nämlich, dass Juden über viele Jahrhunderte auf die metaphysische Bestimmung vorbereitet wurden, Priester, Könige, und intellektuelle Führer der Menschheit der messianischen Ära zu sein. Dieses Thema zieht sich als roter Faden durch den Pentateuch, die Psalmen, die alttestamentlichen Propheten und die neutestamentlichen Evangelien.

Nun haben viele Theologen, Priester, Senatoren und Bürger des Judentums vor 2000 Jahren Jesus Christus als Messias anerkannt und während der nächsten Jahrhunderte ist ihnen hierin die große Mehrheit der Juden gefolgt. Sie haben in der Antike die Alte Welt missioniert und die globale oder katholische Weltkirche aufgebaut. Sie haben in der frühen Neuzeit die Neue Welt missioniert und die Weltkirche reformiert: "Die schöpferische Geisteskraft der bekehrten spanischen Juden war angesichts der Reformation das prägende Modell für den Katholizismus und für dessen Widerstandskraft und Rückeroberungswillen" So der französische Historiker und Spanienexperte J. Dumont (L'Eglise au risque de l' histoire, Paris 1984, 357, vgl. 343—413; Übersetzung PN). Und in der Moderne des 19./20. Jh. war es wesentlich der von dem konvertierten elsässischen Rabbiner Franz-Maria Paul Libermann gegründete größte Missionsorden der Römischen Weltkirche (Spiritaner), der Schwarzafrika zu einem christlichen und katholischen Kontinent machte.

Diese metaphysische Bestimmung und Identität würde auch jeder orthodoxe Jude oder Rabbiner des nichtchristlichen oder talmudischen Israel sofort unterschreiben — mit dem Unterschied, dass er Jesus Christus nicht als Messias anerkennt, sondern als Verführer bekämpft. Wenn Jesus Christus aber der Messias ist, dann verfehlt das nichtchristliche, talmudische Judentum natürlich fundamental seine Bestimmung und gerät in Widerspruch zu Gott, zu den Menschen und zur eigenen Identität (so Paulus im Römerbrief).

Die metaphysische Veranlagung und kulturelle Prägung zur weltanschaulichen und politischen Führung der Völker der Erde bleibt jedoch eine formale Konstante der jüdischen Identität, die revolutionäre Messianismen weltanschaulicher und politischer Couleur in Umlauf bringen kann. Am bekanntesten hiervon ist der Sozialismus / Kommunismus, nach Moses Heß und Ernst Bloch der „Sieg der jüdischen Mission“ (Das Prinzip Hoffnung II, Frankfurt 1959, 702). Vom Standpunkt des christlichen messianischen Reiches sind dies problematische und widergöttliche Ersatzhandlungen. Einer meiner amerikanischen Freunde, Enkel eines Rabbiners und Theologe der Römischen Kirche, würde sagen: Der natürliche Ort von Juden ist die hierarchische und theologische Führungsebene des christlichen Israel alias der globalen Katholischen Weltkirche und Zivilisation.

Ein Manko von Atzmons Analyse ist nun, dass er diese metaphysische Dimension seines Themas nicht wirklich sieht oder anerkennt. Dazu steht er weltanschaulich zu stark unter dem Einfluss eines problematischen säkularen resp. liberalen Zeitgeistes. Das vorliegende Papier bringt hier die nötigen Differenzierungen an. Auf welcher eher humanistischen Ebene er sich der Religion nähert, zeigt sein Bekenntnis vom 15.02.2007: „I regard Jesus as a critical ethical awakening. For me Christ is [...] the birth of western universal humanism (as we know it)".

Atzmon analysiert insbesondere den heute in der westlichen Welt tonangebenden Neokonservativismus, eine von zahlreichen amerikanischen Denkfabriken vorgetragene politisch-wirtschaftliche Agenda jüdischer Ex-Sozialisten / Ex-Liberaler wie Irving Kristol, Donald und Robert Kagan, Paul Wolfowitz, nach dem Scheitern resp. der Abwicklung des sozialistischen Messianismus. Atzmon sieht hier — unter rechtem Vorzeichen — dieselbe Problematik am Werk wie in dem früheren Versuch unter linkem Vorzeichen: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Fragen und Probleme jüdischer Politik und jüdischer Identitätspolitik um des Weltfriedens willen frei und offen diskutiert werden müssen [...] haben es hier mit einer sehr mächtigen politischen Ideologie zu tun, die ... globale Konflikte gigantischen Maßstabs befürwortet und entfacht“ (2012, 17—19).

Das Papier stellt Atzmons Studie vor und diskutiert sie von einem religionsphilosophischen und theologischen Hintergrund aus.