Sonderdrucke
Religiöse Verpflichtung versus religiöse Neutralität des Staates
Interpretation und Bewertung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (Dignitatis humanae) im Kontext der modernen Moralphilosophie und neokonservativen Staatsphilosophie
Paul Natterer
2015
54 Seiten
Sprache: Deutsch
Reihe: Edition novum studium generale Bd. 10 - Sonderdruck
Ausgabe: E-Version
Format: DIN A4
Datenübertragung:
Staat und Religion
Artikelbeschreibung
Die These der religiösen Neutralität des Staates ist das meistdiskutierte Thema des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965): „In der Geschichte der Kirche hat kein Lehrdokument bei seiner Auslegung so viele Kontroversen und so viel Widerspruch ausgelöst wie die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae.“ (Peter A. Kwasniewski: Dignitatis Humanae: The Interpretive Principles. In: The Latin Mass: A Journal of Catholic Culture and Tradition 18 (2009), Nr. 1, 12) Das Thema ist seitdem einer, wenn nicht der meistthematisierte Eckstein z.B. päpstlicher Reden und Initiativen.
Umgekehrt sehen die Verteidiger der Position von Schrift und Tradition in dieser Erklärung ein zentrales Manifest des Taumelgeistes (Romano Amerio) und der Selbstzerstörung (Paul VI.). Die nachkonziliare Kirche unternimmt – so sagen sie – auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Versuch, die liberalistische Gesellschaftsdoktrin als Resultat des neuzeitlichen westlichen Säkularisationsprozesses zu übernehmen: Entlassung des Staates in die religiöse Neutralität – Vorrang der liberalistisch verstandenen Freiheitsrechte (Religionsfreiheit – Pressefreiheit – Lehrfreiheit) vor Wahrheit, Gerechtigkeit und herkömmlicher bürgerlicher wie politischer Freiheit und Selbstbestimmung. Sie können sich auf Pius X. berufen, der zum ersten Mal mit einer reflektierten und organisierten binnenkatholischen Bewegung pro religiöser Neutralität des Staates und interkonfessioneller resp. interreligiöser Kooperation auf humanistischer Grundlage konfrontiert war. Es war die französische Gruppierung Sillon, deren ursprüngliches idealistisches Ethos Pius X. anerkannte. Er warnte sie vor diesen Ideen als einem „inkonsistenten und impotenten Humanitarismus“ notorischer Versager und Tölpel. Sie liefen einer kontraproduktiven, realitätsabgelösten Illusion hinterher, die zum „Ab- und Rückbau der Zivilisation“ führe und in „soziale und intellektuelle Anarchie“ münde: „Es gibt keine wahre Kultur ohne moralische Kultur und keine moralische Kultur ohne die wahre Religion; das ist eine bewiesene Wahrheit, ein historisches Faktum“ (Apostolisches Schreiben Notre charge apostolique vom 25.08.1910). Es gehe nur darum, diese Einsicht und Erfahrung gegen die immer wiederkehrenden Angriffe „geisteskranker Träumer, Rebellen und Schurken“ energisch zu verteidigen. Dies besonders dann, "wenn Irrtum und das Böse in einer mitreißenden Sprache dargeboten werden, welche die Unklarheit der Ideen und die Mehrdeutigkeit der Ausdrücke hinter emotionalem Aufruhr und wohlklingenden Worten verbirgt", die auch „Persönlichkeiten von hohem geistigem Rang [... und] idealistische junge Menschen bei fehlender Bildung und Selbsterkenntnis blendet“.
Die vorliegende Studie dient einer fachübergreifenden Evaluation der Kontroverse. Insbesondere stellt sie sich dem zusätzlichen Klärungsbedarf, der sich aus Folgendem ergibt: Das Konzil erklärt, das Recht auf Religionsfreiheit unabhängig von der Wahrheitsfrage sei kein theologischer Satz, sondern eine moralphilosophische Forderung aus der Würde der menschlichen Person. Nun hat die moderne moralphilosophische Debatte des 20. Jh. gezeigt, dass es ein solches Recht nicht gibt. Absolute, beziehungslose Natur- und Menschenrechte auf beliebige subjektive Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen sind eine Fiktion: „Es gibt keine solchen Rechte und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen und Einhörnern“. So Alasdair MacIntyre, einer der einflussreichsten Moralphilosophen der Gegenwart in Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1995, 98. Auch der bekannteste zeitgenössische Menschenrechtstheoretiker Ronald Dworkin (Taking Rights Seriously, 1976 / dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt a. M. 1984) kommt zu dem Fazit, dass kein Nachweis solcher abstrakter Menschenrechte möglich sei (ebd. 1995, 99). Zu demselben Ergebnis kommt die Metaethik. Eine der repräsentativsten und anerkanntesten Darstellungen der Metaethik stammt von Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik, Berlin/New York 21999, wo er begründet: Das Recht auf Gewissensfreiheit schließt kein Recht auf generelle Handlungsfreiheit ein (Kutschera 1999, 282) und das Recht auf Meinungsfreiheit gilt qua Recht ebenfalls nicht für Beliebiges und Falsches, sondern hat Wahrheit zur Voraussetzung (ebd. 283).
Das E-Buch folgt dieser Gliederung:
1 Schrift und Tradition von Tanakh [Altes Testament] und Evangelium [Neues Testament] zur religiösen Verpflichtung des Staates
2 Sozialpsychologische, sozialethische und sozialpolitische Dimensionen des Themas
3 Die Gesellschaftsdoktrin der Katholischen Weltkirche und Fundamentalismus
4 Die moderne Moralphilosophie zu liberalen Freiheitsrechten und religiöser Neutralität des Staates
5 Die moderne Staatsphilosophie zu liberalen Freiheitsrechten und religiöser Neutralität des Staates
6 Die Konzilserklärung Dignitatis Humanae zur Religionsfreiheit als Schlüsseldokument im theologischen Diskurs zwischen Progressismus und Traditionalismus
7 Der Text, die Grundbegriffe und die Thesen von Dignitatis Humanae
8 Kommentar und Fazit des Textes von Dignitatis Humanae
9 Bestätigung des erzielten Ergebnisses aus dem historischen und systematischen Kontext von Dignitatis humanae
10 Hat die konziliare Erklärung über die Religionsfreiheit als solche (insgesamt) einen identifizierbaren Sinn?
Erratum: Seite 43, Zeile 10 von unten ist statt "Punkt (15)" zu lesen: "Punkt (16)"; und Zeile 7 von unten ist statt "Punkt (16)" zu lesen: "Punkt (15)",